Das Projekt
Lernen in Bewegung ist ein Konzept, welches Kinder im Unterricht spielerisch und in Bewegung lernen lässt. Es stellt eine nachhaltige Präventionsmassnahme in Bezug auf die Phänomene des zunehmenden Bewegungsmangels, der Konzentrationsschwierigkeiten und des Übergewichts bei Kindern dar.
Eduard Buser-Batzli
Ich bin verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern. Nach 40 Jahren Unterricht an der Mittelstufe (5./6.Klasse) habe ich mich mit 60 Jahren frühpensionieren lassen. Mit den Entwicklungen und den Zielen konnte ich mich nicht mehr länger identifizieren.
Ich arbeitete 16 Jahre als Praxislehrer am Lehrerseminar Solothurn. Während den letzten 20 Jahren setzte ich mich konsequent mit Lernen in Bewegung (LIB) im Unterricht auseinander. In diesen Jahren hatte ich meine Schulzimmertüre immer offen für Interessierte, begleitete Schulteams und gestaltete Kurstage. Mitten in dieser Pionier-Arbeit erhielt ich den Comeniuspreis 2009 für Bildungsinovation. Die FHNW würdigte das Projekt LIB aus der Bildungspraxis mit dieser Auszeichnung.
Seit der Frühpensionierung arbeite ich als selbständiger Pädagoge im kleinsten Schulzimmer der Schweiz mit Kindern und Jugendlichen als ganzheitlicher Lernbegleiter.
Ich bewege mich noch in Stukturen und arbeite mit Farben und Formen.
Ich habe meinen Unterricht in der 5./6.Klasse mit dem Konzept Lernen in Bewegung (LIB) erweitert. Was wie Zirkus aussieht, ist eine ungemein bewegte Form des Lernens, spannend, abwechslungsreich, gesund und effizient.
Einzelne meiner SchülerInnen laufen vorwärts und rückwärts auf einem sechs Meter langen Balken, balancieren und jonglieren mit Tüchern und Bällen, während sie gleichzeitig grammatische Verbformen und „Mach mit – bliib fit“ -Aufgaben rechnen. Die Jugendlichen lesen auf Rollen und Wippen im Schulzimmer aufgehängte grosse Texte und repetieren zu zweit französische Dialoge auf grossen Kabelrollen. Beim bewegten Musizieren (Klatschen, singen, Mundharmonika spielen) müssen die Kinder den Raum erfassen und Abstände einhalten, den Puls der Musik in sich aufnehmen und natürlich die Melodie können. Viele SchülerInnen üben draussen auf Pedalos und Einrädern Franzwörter zu den einzelnen Etappen. Alles läuft selbständig und kontrolliert ab. Die Bewegungszeit wird durch eine Eieruhr vorgegeben. Der Rest der Klasse arbeitet ruhig und konzentriert in ihren Bänken, denn sie wissen, dass auch ihnen diese Übungsform zur Verfügung stehen wird.
Gerade beim Memorisieren ist das Element der Bewegung enorm sinnvoll und hilfreich. Zum einen, weil dabei der gesamte Körper aktiviert, der Stoffwechsel angeregt, das Gehirn vermehrt mit Sauerstoff versorgt wird und so aufnahmebereiter ist. Zum anderen sind die Lernenden viel motivierter und können ihren Körper aus der Sitzposition befreien. Dies ist, angesichts der Tatsache, dass ältere Schüler bis zu 12 Stunden pro Tag sitzend verbringen, auch eine dringende Forderung, die an uns Lehrkräfte gestellt wird. Viele Jugendliche haben einen Bewegungsmangel. Die Folgen davon sind bekannt. Viele Kinder werden übergewichtig, haben koordinative Störungen oder Defizite, erleben einen Abfall der körperlichen Leistungsfähigkeiten und müssen ständig unterhalten sein.
Sich am Platz bewegen, herumzappeln oder herumlaufen ist in der Regel schlicht Störung des Unterrichts. „Im richtigen Unterricht laufen wir nicht herum!“ so sind die entsprechenden Regeln im Schulzimmer. Gar so schlimm ist es sicher nicht mehr. Aber immer noch geistern solche Sätze herum. Nur im Stillsitzen kann man richtig lernen, Konzentration hängt von körperlicher Unbeweglichkeit ab, der Geist kann sich erst dann voll entfalten, wenn der Körper stillgelegt ist. Blödsinn.
Wandelhallen und Promenaden in den Klöstern und Kirchen in der Antike beweisen, dass dies ein grosser Irrtum ist. Hier wurde schon zur damaligen Zeit im Gehen gelernt und meditiert. Bewegung diente der Unterstützung geistiger Arbeit und Konzentration. In der Schule ist dies heute eher ungewöhnlich, Bewegung und Lernen werden meist als Gegensätze empfunden.
Lernen braucht Bewegung. Ich bin seit Jahren als Vater und als Pädagoge überzeugt, dass Lernen in Bewegung neben der zusätzlichen Möglichkeit der Rhythmisierung des Unterrichts, auch die kognitiven Leistungsfähigkeiten der einzelnen SchülerInnen stark verbessert werden können. Diese Form des ganzheitlichen Lernens kommt den Interessen der Kinder entgegen, regt zum freudvollen Lernen und Üben an und baut Lernbarrieren und Ängste ab. Diese Ansätze des Lernens und Handelns sind seit Jahrzehnten bekannt. Schon Pestalozzi forderte das ganzheitliche Unterrichtsprinzip: mit Kopf, Herz und Hand.
Ich bemerke ein erhöhtes Selbstwertgefühl der einzelnen Kinder und eine bewusstere Einstellung zur eignen Körperlichkeit. Gleichzeitig sehe ich auch eine Erhöhung der Erfolgschancen in den Bereichen Freizeitaktivitäten und Integrationsarbeit.
Bildung braucht Bewegung. Nach den Pisa-Ergebnissen wird die Notwendigkeit von Veränderungen im schulischen Bildungsbereich erkannt. Viele der Diskussionen um Pisa zeigen auf, dass Bildung verbessert werden muss. Wir brauchen für die Zukunft vermehrt Menschen mit erhöhter Leistungsbereitschaft und grösserer Leistungsfähigkeit. Dazu müssen neue Wege gemacht und begangen werden. Wir müssen uns, meines Erachtens, vom Grundsatz „Erwachsene bilden Kinder“ in Richtung „Entwicklungsbegleitung der Kinder“ verändern. Zu gross sind die Leistungsunterschiede der einzelnen Kinder. Eine schulische Begleitung, die sich an den Stärken und Bedürfnissen der uns anvertrauten Menschen orientiert. Wenn wir wollen, dass die SchülerInnen effektiv lernen, sich aktiv beteiligen und sich interessieren, müssen wir dafür einen deren Bedürfnissen angepassten Rahmen schaffen. Wir müssen uns distanzieren von der so genannten „Gleichschrittpädagogik“.
In der Persönlichkeitsentwicklung spielen Wahrnehmung und Bewegung bis zum Jugendalter eine zentrale Rolle. Aber auch darüber hinaus kann Bewegung das Lernen sinnvoll unterstützen. Wenn diese Bedürfnisse genutzt und gefördert, statt unterdrückt werden, wenn Potentiale erkannt und ausgeschöpft werden, kann eine gemeinsame Lern-Lust enstehen.
Die Schule kann die sich verändernden Lebens- und Entwicklungsbedingungen entweder ignorieren und weiterhin auf zunehmend weniger vorhandene Grundlagen geistiger und körperlicher Art bauen und immer ineffektiver werden. Oder sie kann sich und ihre Vorstellung von Bildung den Veränderungen anpassen. Sie kann den SchülerInnen Nachhol- und Kompensations-möglichkeiten anbieten. Ein vermehrtes Bewegungsangebot kann helfen den schon lange propagierten Förderansatz in die Tat umzusetzen.
Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit gelten als wesentliche Grundlage für erfolgreiches Lernen. Auch sie können durch Bewegung gesteigert werden. Sicher ist der Ansatz des Lernens in Bewegung auch eine sinnvolle Unterstützung im Hinblick auf die Arbeit in den langen Blockzeiten.
Denkpause – Pause zum Denken und Lesen ja, aber nicht zum Ausruhen.
Versuchen Sie doch noch einmal diesen Text im Stehen oder sogar im Laufen zu lesen. Das wäre ein Auftrag für die Schüler. Vielleicht ist diese Aufforderung jetzt noch zu schulmeisterlich und anmassend, aber trotzdem.
Eduard Buser-Batzli