Ausgangslage
Der Kontext, in dem sich das Projekt «Lernen in Bewegung» situiert, ist der des zunehmenden Bewegungsmangels und Abbau der Konzentration, welcher bei Schülerinnen und Schülern in der Schweiz in den letzten zwei Jahrzehnten beobachtet wurde.
Verschiedene Studien aus dem fünften Schweizer Ernährungsbericht (2005) weisen darauf hin, dass sich die zunehmende Technisierung des Alltags einschränkend auf den jugendlichen Bewegungsdrang auswirkt und damit die geistige und körperliche Entwicklung der Kinder behindert. In der Folge fehlen im Freizeitbereich Erfahrungen in der Bewegungs- und Spielkultur.
Ein weiteres Phänomen, das mit dieser Entwicklung zusammenhängt, ist die starke Zunahme von übergewichtigen und adipösen Kindern in den letzten zwanzig Jahren. Dabei handelt es sich um eine vom Lebensstil der modernen Gesellschaft abhängige Erkrankung, die mittlerweile «pandemische Ausmasse» angenommen hat. Daran ist nicht in erster Linie die falsche Ernährung Schuld, sondern eher der Mangel an Bewegung.
Interview mit Michèle Hunziker
Ich unterrichtete während 40 Jahren, fast immer auf der oberen Mittelstufe, 5./6.Klasse in einem Vorort von Solothurn. Eigentlich war immer die Vorstellung da, dass mein Schulzimmer nicht ein eintöniger Lernort sei, sondern ein Begegnungs- und Bewegungsraum sei. Unsere beiden Kinder haben mir immer wieder über langweilige Unterrichtsstunden in öden Schulzimmern, mit viel Stillsitzen erzählt. Dabei ist doch die Bewegung ein wichtiger Teil des Lernprozesses. In diesen vier Jahrzehnten ist das Projekt Lernen in Bewegung (LIB) kontinuierlich gewachsen. Ich habe die Erfahrungen der alten Pädagogen (Pestalozzi, Rousseau ua.) und auch der griechischen Peripatetiker übernommen und konsequent im Unterricht eingebaut.
Was im Kleinen mit Rhythmus, Klatschspiele, Bodypercussion, Mundharmonika spiele ua. begonnen hat, habe ich während Jahren aus- und in alle Fächer eingebaut.
Skepsis habe ich nie empfunden, eher das Gegenteil. Die grosse Motivation und die Erfolge der Schülerinnen und Schüler (SuS) gaben dem Projekt und mir grossen Elan.
Die Bewegung ist ein Grundrecht der SchülerInnen. Die alte lateinische Weisheit “mens sana in corpore sana“ zeigt, dass das Lernen und Wissen um die grosse Bedeutung der Bewegung keineswegs eine moderne Erfindung ist. Die Gehirnentwicklung braucht Nervenwachstumsfaktoren, deren Bildung durch Bewegung auffällig erhöht wird. Die Leistungsfähigkeit eines Gehirns ist im Wesentlichen davon abhängig, wie viele Synapsen gebildet und wie stark seine Nervenzellen vernetzt sind. Bewegung ist ein bewährtes Mittel des Organismus, um seine tägliche Gehirnentwicklung selbstständig anzuregen.
Tanzen, hüpfen, laufen, toben, klatschen, jonglieren, musizieren sind keine Zeitverschwendung, sondern für alle Entwicklungschancen.
Eine Verbesserung der Leistungen stellt sich rasch ein.
„Lernen in Bewegung“ (LIB) ist eine Lehr- und Lernpraktik, die dem traditionellen Sillsitzen am Pult und so zu lernen, entgegen wirkt. Ich als praktizierender Lehrer bin überzeugt und die langjährige Erfahrung bestätigt es, dass die SuS mit Bewegung deutlich motivierter sind. Dadurch steigert sich die Konzentration und die Aufnahmefähigkeit. Die Rhythmisierung des Unterrichts zwischen Bewegung und Ruhe steigert die Lernbereitschaft und ein positiver Lernerfolg stellt sich ein. Die SuS gewinnen an Selbstwertgefühl und werden auch kreativer im Lernen. In der Bewegung in Verbindung mit dem Gleichgewichtssinn werden verschiedene positive Hormone ausgeschüttet, der Stoffwechsel wird angeregt und der Sauerstoffgehalt des Blutes wird angereichert. Das Adrenalin wird durch die Bewegung abgebaut. Der Stress nimmt ab.
Die Anfänge von LIB liegen sicher über 20 Jahre zurück. Zu Beginn wurde die Idee von LIB als Zirkus abgetan und ignoriert.
LIB ist langsam in meinen Unterricht hineingewachsen, daher gab es keine grossen Anlaufschwierigkeiten. Die täglichen Probleme wurden im Unterricht besprochen und mit Abmachungen korrigiert. Ohne konsequentes Einhalten der Abmachungen hätte es disziplinarischen Schwierigkeiten gegeben. LIB muss vorbreitet und unter Aufsicht durchgeführt werden. Der 6 Meter lange Balken war von Anfang an das Wichtigste Bewegungselement im Schulzimmer.
Kategorien bilden wohl der Gleichgewichtssinn, die Hand-Augen-Koordination, Augenbewegungen mit Augensprüngen und –Akkommodation.
Alle Übungen, die mit Lernen in Verbindung gebracht werden können, sind sinnvoll.
Der Aufbau sollte zeitlich langsam und kontinuierlich sein, vom einfachen zum schwierigen. Die Abläufe müssen sorgfältig eingeführt und die Ausführungen sollen so lange geübt werden, bis diese automatisiert sind und das eigentliche Lernen nicht gestört wird. Am Zentralsten war der präparierte Balken im Schulzimmer. Auf diesem „Herzstück“ wurden dann viele neue Übungen eingeführt.
LIB ist für alle Kinder mit allen Lerntypen möglich. Vielmals können die schulisch schwächeren SuS mit ihrem neuerworbenen Können gegenüber den stärkeren SUS auftrumpfen und erleben so einen grossen Motivationsschub. Auch gibt es dann vermehrt eine Zusammenarbeit auf der Basis der neuen Fähigkeiten. Die Bewunderungen nehmen zu. Ein Schulterschluss vieler gibt neuen Schub. Gemeinsames Lernen und Austauschen passiert schneller und selbstverständlicher.
Der Klassengeist vergrössert sich und wird spürbar besser. Kommt dann noch die Musik (gemeinsames Singen und Mundharmonika spielen) dazu, entsteht eine gesunde Gemeinschaft. Für die Schülerinnen und die Schüler macht das Bewegen Spass. Sie sollen und müssen sich bewegen um die Welt zu erfahren und zu erleben. Die Konzentration auf eine bestimmte Arbeit soll ja geübt und ausgebaut werden.
Die INHIBITION (gehört zu den exekutiven Funktionen) kann nur im lebendigen Unterricht und in der scheinbaren Unruhe gelernt und angewendet werden. Die Unruhe und die vorherlaufende fehlende Konzentration geben echte Sprechanlässe.
Lehrkräfte kann man nicht überreden. Sie müssen eigene Erfahrungen sammeln und zur Einsicht kommen, dass sie es selber gemacht haben. Lehrkräfte sind Einzelkämpfer und leiden am Abbau der pädagogischen Freiräume.
In der heutigen Bildungsbaustelle ist es auch sehr schwierig Neues zu entwickeln. Leidet doch die Lehrerschaft unter der andauernden Reformenschwemme und Leerläufe.
Doch die Wissenschaftler und Bildungsexperten sind aufgeschreckt und forschen. Die Ausbildungsstätten, die einzelnen Pädagogischen Hochschulen, bieten Module zu Bewegtem Unterricht in ihren Studiengängen an. Die Printmedien sind interessiert und schenken dieser Lehr- und Lernmethode vermehrt grosse Beachtung. Die Eltern sind hellhörig und fordern des öftern auch den Einsatz von LIB in den Schulstuben ihrer Kinder. Gymnasiasten und PH-StudentInnen setzen sich auch in schriftlicher Form mit dem Projekt auseinander.
Leistungsunterschiede wird es immer geben.
LIB ist für alle Kinder mit allen Lerntypen möglich. Vielmals können die schulisch schwächeren SuS mit ihrem neuerworbenen Können gegenüber den stärkeren SUS auftrumpfen und erleben einen grossen Motivationsschub. Auch gibt es dann vermehrt eine Zusammenarbeit auf der Basis der neuen Fähigkeiten. Die Bewunderungen nehmen zu und das Selbstwertgefühl steigt. Die Belastbarkeit nimmt zu. Eine Leistungssteigerung wird merkbar.
Lernen ist ein aktiver und kontinuierlicher Prozess für alle SuS, ob diese jetzt Mühe mit der Motorik bekunden oder nicht. Der Schulunterricht muss und soll auf Defizite der Einzelnen die nötigen Hilfeleistungen bieten. Das Lernen in Bewegung ist kein Wettkampf und wird nicht benotet. Es soll auch Spass machen.
Lernen ist ein Vorgang, der nie endet und aktiv von den Kindern bis zum Erwachsenen selbst gestaltet wird. Wissen wird von Kindern nicht einfach nur erworben, sondern es wird selbst konstruiert.
Lernen ist aus neurobiologischer Sicht eine Stärkung der Verbindungen im Gehirn, den so genannten Synapsen. Der Mensch verfügt über viele Milliarden Nervenzellen im Gehirn, die aber nur funktionstüchtig sind, wenn sie durch den Gebrauch miteinander verknüpft werden oder worden sind. Diese Verbindungen zwischen den Nervenzellen werden komplexer, je mehr Reize durch die Sinnesorgane zum Gehirn gelangen. Das Balancieren und Jonglieren sind Tätigkeiten, die über das Gehirn gesteuert werden. Auch hormonelle Vorgänge tragen wesentlich zu Lernerfolg bei.
Das Gehirn geht dabei nach dem einfachen Prinzip „Use it or loose it“ vor. Es baut überschüssige Kontaktstellen vor allem aufgrund fehlender Erfahrungen ab. Nur die häufig benutzten Verbindungen bleiben bestehen. Der Abbau wird durch Bewegung und körperliche Aktivität verhindert, bis ins hohe Alter.
Wir lernen immer. Das Gehirn kann gar nicht anders.
Und: Es macht ihm einen Heidenspass
Siehe Nr. 7 und als LehrerInnenteam thematisieren und dranbleiben. Junge und junggebliebene Lehrkräfte gehen mit gutem Beispiel voran und bleiben dran.
Diese Unterrichtsform vergrössert die Lernsituation der einzelnen Klassen, begeistert die SuS und die Eltern. Die Kinder steigern ihre Motivation, ein grösseres Verständnis zum eigenen Körper entsteht, dadurch werden Ängste abgebaut und eine angenehme Schulatmosphäre entwickelt sich. Das Zusammengehörigkeitsgefühl wird gesteigert.
BILDUNG BRAUCHT BEWEGUNG, ansonsten fahren wir mit all den einschränkenden Aufgaben und dem immer grösser werdenden administrativem Aufwand, die eigentlich nur der Kontrolle der Lehrerschaft dient, an die Wand.
Wenn ich Schulleiter wäre, müssten wir die Idee von LIB gemeinsam angehen, entwickeln und im Unterricht einsetzen. Verordnen wäre nicht in meinem Sinn. Ein solches Vorgehen würde nur Ängste produzieren und die Widerstände würden wachsen.
Alle Übungen machen Sinn. Denn die SuS trainieren in der Bewegung den Gleichgewichtssinn und mit der Jonglage die Hand-Augen-Koordination. Das Stehen auf der Rolle dient der vorwärts-rückwärts-Korrektur. Die Links-Rechts-Korrektur wird auf einer Rolle mit quergestelltem Brett geübt. Auf dem Kreisel wird eine dreihundertsechzig Grad Bewegung ausbalanciert. Das Einrad fahren fordert dann alle diese Sinne.
Alle diese Tätigkeiten gekoppelt mit kognitiver Arbeit steigern die Mehrfachbelastung des Gehirns. Es wird mit verschiedenen Sinnen gearbeitet und zusätzliche Gehirnareale werden aktiviert.
So. Das war’s.
Vielen Dank für das Interesse am Projekt Lernen in Bewegung.
Mit freundlichen Grüssen
Eduard Buser-Batzli