Können wir das Beste aus dem Kinde herausholen?
Eine Textreihe über Betrachtungen für eine optimale und integrierende Unterstützung und Förderung eines Lernenden
Alles ist im Wandel und in Bewegung: die familiären Strukturen, der Lehrplan, heterogene Klassen, der Umgang mit grösseren Informationsmengen, das Arbeiten mit neuen Medien, der Erwartungs– und Leistungsdruck an die Schule und nicht zuletzt die Veränderungen der Schulstrukturen. Können wir dem alles als Lehrkraft gerecht werden? Die grossen Bereiche beschäftigen uns schon lange und werden noch viel Zeit und Kraft beanspruchen.
In unseren Veröffentlichungen interessieren uns Bereiche des Lernens, die für viele Lehrpersonen fremd sind und deswegen einen kleinen Stellenwert in der täglichen Arbeit mit den Lernenden haben.
Wir richten in den erscheinenden Beiträgen unseren Fokus speziell auf die Bedeutung der visuellen Wahrnehmung in der Schule
Fast 90% aller Sinneseindrücke erleben wir durch das Sehen. Vieles, was wir wissen, kam durch die Augen in den Kopf. Und das Lesen ist der Hauptlieferant für Wissen. Das Meiste, was Kinder nach und nach lernen und als Wissen abspeichern, nehmen sie durch das Lesen auf oder vertiefen es damit.
Das Sehen ist ein ebenso komplexer wie komplizierter Vorgang, den man von Geburt bis ins Erwachsenenalter in vielen Entwicklungsstufen formt.
Da zum Zeitpunkt der Einschulung die Sehentwicklung noch nicht abgeschlossen ist, haben die Sehbedingungen in der Schule einen grossen Einfluss auf die weitere Reifung und auch auf die visuelle Leistung. Das Leselernen beginnt häufig früh, also in einem Alter, in dem die Sehfähigkeit noch nicht voll ausgebildet ist. Defizite in der Sehentwicklung können deshalb in sehr kurzer Zeit massive Lese-Lern-Probleme erzeugen und den dabei entstehenden Stress verstärken. Für das Kind, das häufig kein Verständnis für seine schwache Leseleistung findet, gibt es nach der Erkenntnis, LESEN IST DOOF, nur noch den Ausweg, das Lesen zu verweigern, sofern es sich auf den täglichen Kampf um das Üben nicht einlassen kann. Das „Stresstöpfchen“ überläuft, die Verweigerung beginnt und die Flucht in das Auf- und Davonzappeln wird zum Alltag.
Sehfunktionsstörungen verstecken sich gerne hinter Kompensations-mechanismen wie Schiefsitzen, mit der „Nase lesen“, Kopfschiefhaltungen, häufiges Augenreiben, Text verdrehen, mit dem Finger lesen (die Zeile geht oft verloren), langsames und stolperndes Lesen, usw.
Viele Intelligenz – und Abklärungsteste werden ausschliesslich über das visuelle System gemacht. Einschränkungen im Sehen, der visuellen Koordination, und der visuellen Abspeicherung können so das Ergebnis verfälschen.
Das visuelle System kann in 5 Teilbereiche gegliedert werden. Alle Teilbereiche sind auch messbar.
Der erste Teilbereich betrifft die äusseren Augenmuskeln. Diese sind zuständig beim Lesen und Schreiben, um fliessende Augenbewegungen zu machen, und Blicksprünge (z.B. von der Tafel auf das Heft).
Der zweite Teilbereich betrifft die Koordination beider Augen zueinander, damit im jeweiligen Abstand einfach und scharf gesehen wird (Vergenz).
Der dritte Teilbereich ermöglicht die Erkennbarkeit von Schrift und Bild, und wird durch die Augenlinse eingestellt (Akkommodation).
Der vierte Teilbereich betrifft die Visualisation. Das bedeutet, dass ich mir ein Bild machen kann von dem was ich sehe (Wörter / Datenmengen beim Rechnen etc.)
Der fünfte Teilbereich ist das eigentliche Sehen und die Schnittmenge aus den vorangegangen 4 Teilbereichen.
Störungen in der visuellen Wahrnehmung sind häufig ursächlich motorischer Art. Die visuellen Einzelfähigkeiten haben eine Art Missmanagement und / oder sind überfordert, sodass es zu einer Behinderung mit den verknüpften Lernprozessen kommt.
Da die ganzkörperliche Motorische Entwicklung die Grundlage der motorischen Entwicklung der Augen ist, kommen heute mehr Probleme zum Vorschein, früher, als Kinder noch Stunden draussen gespielt haben.
In der jetzigen Zeit, wo die Kinder hauptsächlich in kleinräumigen Verhältnissen leben und sich mit vielen elektronischen Geräten beschäftigen, steigern sich die genannten Probleme laufend.
Bewegungen wie Balancieren auf dem Randstein, auf Waldboden laufen und springen, Rollschuhfahren, Rückwärtsgehen und vieles mehr fordern und üben viel visuell-motorische Koordinationsfähigkeit.
Lesen können ist keine Selbstverständlichkeit, denn Lesen ist nicht so einfach, wie es uns geübten Leserinnen und Lesern erscheinen mag. Es ist ein Vorgang, der grosse Arbeit und zeitlichen Aufwand braucht und auch noch vom korrekten Sehen abhängt. Dabei ist zu bedenken, dass Sehen ein komplexer und komplizierter Vorgang ist, über den man nicht einfach von Geburt an verfügen kann, sondern das Kind muss die einzelnen Sehfunktionen im Laufe vieler Entwicklungsstufen Schritt für Schritt erlernen. Ohne korrektes Sehen können wir unsere Lesefähigkeit und Lesefreude nicht aufbauen und unseren Wissensstand nicht erweitern.
Die Augenbewegungen sind die Basis des Sehens, um eine visuelle Verarbeitung zu erreichen und werden durch die sechs äusseren Augenmuskeln pro Auge möglich. (Bild)
Die Steuerung der Augenmuskeln erlernt der Mensch durch die motorische Entwicklung vom Baby zum Schulkind. Es baut diese Fähigkeit ständig weiter aus, je nach Sehanforderungen und Bewegungsaktivität. Wenn Lehrkräfte beklagen, dass heute die motorischen Fähigkeiten von Kindern bei weitem nicht mehr so gut sind wie in den vergangenen Jahrzehnten (Seil springen, Purzelbäume schlagen, Gummitwist, Velo fahren, uam.), dann hängt das selbstverständlich auch mit den fehlenden motorischen Fähigkeiten beim Sehen zusammen. Das Balancieren auf der Bordsteinkante oder Rückwärtsgehen ohne sich umzudrehen, mit Bällen spielen, klettern, Rollschuh fahren, auf dem Waldboden laufen und springen erfordern sehr viel mehr Visuell-motorische Koordinationsfähigkeiten als die Bedienung von IPhones und IPads oder die Handhabung einer Fernbedienung.
Im Alter sieht man später eine Verringerung der dynamischen Sehanteile, da auch die Körperbewegungen weniger werden.
Wenn ein Kind auf die Welt kommt, dann geben die Schwerkraft, die Wahrnehmung der einzelnen Körperteile und deren Bewegung
und auch das Verarbeiten von Geräuschen viele verschiedene Reize auf das Gehirn.
Diese Inputs und weiter auch die ungezielten Bewegungen und das Zappeln durch die Reflexe und deren visuelle Verarbeitung der Bewegungsrezeptoren der Netzhaut, der Geruchs- und der Geschmacksinn, wie auch die Reize an das Gleichgewichtsorgan werden hirntechnisch nach „Sinn“ sortiert , verknüpft, verarbeitet und abgespeichert.
Auf diese Grob- und Feinmotorische Entwicklung des Kindes und die Sinneswahrnehmung bauen sich die visuellen Fähigkeiten auf.
Mit der Bildung der Fovea Centralis (Ort des schärfsten Sehens auf der Netzhaut) mit ca. 4 Wochen ab Geburt, werden auch die Rezeptoren für das Detailsehen, Farbensehen und Objekterkennung und die Fixation-Halten entwickelt (wichtig für das Lesen).
Bei den Augenbewegungen unterscheidet man die weichen Folgebewegungen (Lesen), und die Augensprünge (Saccaden) von einem Punkt zum Anderen.
Beim Lesen in einem Buch müssen die 20 Augenmuskel gleichzeitig koordiniert und fein eingestellt werden. Sie steuern dabei das Augenpaar über die Seite und dürfen dabei keine Höhenabweichung produzieren, noch dürfen sie ruckeln, sonst fehlen Buchstaben oder man verrutscht in der Zeile.
Die Muskeln beider Augen steuern unter anderem die Augen zur Nase zu, damit die Buchseite einfach und scharf eingestellt werden kann. Je näher der Kopf bei der Blattseite ist, desto mehr müssen die Augen sich einwärts bewegen.
Sind die Augenbewegungen durch die äusseren Augenmuskeln nicht weich und gleichmässig, kann der Text doppelt erscheinen und sich gleichzeitig bewegen.
Ebenso können die Buchstaben oder Zahlen abwechselnd scharf oder unscharf werden, in Blockform erscheinen, mit zu viel oder zu wenig Zwischenraum.
Durch dieses Fehlverhalten der Muskeln wird das Sinnverständnis eingeschränkt. Strukturen, wie Rechtschreibung und Grammatik, werden nicht der Intelligenz und dem Alter entsprechend abgespeichert.
Bei den Saccaden wechseln die Augen die Fixation von Objekt zu Objekt, wie zum Beispiel vom Heft zur Tafel und umgekehrt, von der Vorlage auf das Heft etc. Dabei bedürfen sie einer geübten Steuerung und Koordination. Treffen die Augen zu wenig weit oder zu weit, muss ständig mit 20 Augenmuskeln nachkorrigiert werden. Dies bewirkt eine schnellere Ermüdung, Unruhe, Verlangsamung, beispielsweise beim Aufnehmen und Übertragen von der Tafel zum Heft oder bei Wanderdiktaten.
Fast alles, was wir wissen, kommt durch die Augen in den Kopf.
Werden die motorischen Entwicklungsschritte gestört oder zu wenig entwickelt, können Augenkoordinationsprobleme, Augenzittern, Unbeweglichkeit der Augen, Geschwindigkeitseinbussen in der Fixation, Identifikation und Mangel an Konzentration die Folge sein. Der Konzentrationsmangel und die Unruhe im Körper entstehen aber in diesem Fall über die Ausschüttung von Stressbotenstoffen aufgrund des physischen Aufwands der Augenmuskeln.
Störungen in der visuellen Wahrnehmung sind sehr häufig ursprünglich motorischer Natur. Ein Missmanagement des Augenpaares oder / und eine Überforderung durch eine mangelhafte motorische Entwicklung, welches die damit verknüpften Lernprozesse und deren Geschwindigkeit beeinträchtigt, können Ursachen für eine schlechte Lesequalität sein.
Wir lesen gern und viel und mit Genuss, um uns in neue Gedankenwelten zu bringen und zu bilden.
In den Schulklassen entstehen bunte Gemeinschaften von Jugendlichen vielfältiger Art, mit unterschiedlichen Erziehungsschwerpunkten. Es wächst und entwickelt sich eine grosse Vielfalt unterschiedlicher Arten von Kindern. Vielfalt ist deshalb auch ein Schlüsselwort, wenn wir über gute Bildung und sprachliche Förderung sprechen: Verschieden sind nicht nur die Sprachen und Kulturen, verschieden sind auch die kognitiven und motorischen Vorkönnen der Schülerinnen und Schüler. Viele Kinder zeigen in diesen Bereichen Defizite auf und können gar nicht über ein stufengerechtes Verhalten verfügen.
Das heutige „Lesen“, wie es auch im Lehrplan 21 dargestellt wird, ist eine mehrdimensionale Tätigkeit mit hohen Anforderungen an das Sehen. Dieser Aspekt muss vermehrt beachtet werden und in den Schulzimmern Platz finden. Wenn in den Klassenzimmern das Lernen und Arbeiten in Bewegung täglich und vielfältig eingebaut wird, kann man den entstehenden Fehlentwicklungen des Sehens und den visuellen Wahrnehmungsstörungen entgegen treten und damit nicht nur die Lesefertigkeiten steigern. Mit einem vielfältigen und bewegtem Lernangebot steigert man auch die Lesefreudigkeit und gekoppelt damit ist die Erweiterung des persönlichen Wissens.
Cordula Stocker-Klug, Funktionaloptometristin
Eduard Buser-Batzli, freischaffender Pädagoge